schwelle 7
 
 
Artikel über einen Workshop in der Schwelle 7 von Ella Stern im Magazin „Wienerin“: Über die Schwelle 
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„Putzen, Porno, Projektionen“
Gespräch mit Felix Ruckert. Über Leben, Liebe und Arbeit in einem Berliner Künstlerprojekt, Weihnachten im Forsthaus und das Spannungsfeld von Kunst und Ökonomie / Junge Welt - 12 /2009
Interview: Claudia Wangerin 

Felix Ruckert ist Choreograph und Gründer der ªSchwelle 7´. Das Berliner Künstlerprojekt widmet sich laut Selbstdarstellung experimenteller Körperarbeit und Körperforschung, vor allem aber dem Spiel, der Zauberei und dem sanften Wahnsinn. Es befindet sich in einer ehemaligen Fabriketage im Stadtteil Wedding.
Welche Vorgeschichte hat die Gründung der Schwelle7 ? Ein wichtiger Grund war, dafl ich einen festen Ort für meine Projekte haben wollte – ich habe vieles gemacht, was im Theaterkontext schwer möglich ist. Mein Ziel war weitgehende Unabhängigkeit vom Produktionsmarkt und den Förderstrukturen, von denen man als Choreograph üblicherweise abhängig ist. Deshalb habe ich mit der klassisch ausgebildeten Tänzerin Dasniya Sommer im März 2007 die Schwelle gegründet. In diesen Räumen, die wir selbst renoviert haben, befand sich früher eine Maschinenfabrik. Wir wollten einen Raum für Experimentelles. Außerdem wollte ich nicht mehr soviel reisen.
Andere zieht es bei diesen eisigen Temperaturen in den Süden. Vermisst man das Reisen da nicht?             Das habe ich rund zehn Jahre lang gehabt. 1996 habe ich angefangen, sehr viel auf Tour zu gehen. Ich war überall in Europa. Außerdem in Asien, Nord- und Südamerika. Den größten Teil des Jahres habe ich im Ausland verbracht, nur wenige Monate war ich zu Hause. Wenn man viel Zeit in Ländern verbracht hat, in denen man die Jahreszeiten nicht spürt, weil es immer mindestens 22 Grad hat, weiss man auch den europäischen Winter zu schätzen. Die Sonnenuntergänge am Äquator sind auch viel zu schnell vorbei. Mit der Zeit vermisst man da schon etwas.
Und wenn in Europa zur Zeit etwas im Bereich Tanz und Choreographie passiert, dann in Deutschland, Belgien und Frankreich. Außerdem schätze ich Berlin sehr – es bietet eine Lebensqualität, die es sonst fast nirgendwo gibt.

Weil in Berlin für eine Großstadt die Lebenshaltungskosten vergleichsweise niedrig sind?                         Nicht nur das. In Brasilien und anderen Ländern des Südens gibt es auch viele Großstädte, die aus europäischer Sicht sehr preiswert sind. Aber dort kann man dafür nachts nicht gefahrlos auf die Straße gehen. Das ist wirklich so, das ist nicht übertrieben. Natürlich kann man sein Leben dort auch sicher gestalten; es ist aber mit Einschränkungen verbunden.
Aber das ist nur ein Aspekt. In Nordamerika stören mich die eintönige Medienlandschaft und das politische Desinteresse der meisten Leute. Finde dort mal in einer Kleinstadt einen Zeitungsstand! Wenn, dann gibt es drei Zeitungen mit wenig Substanz und Hintergrundinformationen– dafür viele Knalleffekte und ªInfotainment´. Im Süden ist das größtenteils nicht besser. Mexiko und Peru habe ich als positive Ausnahmen wahrgenommen.
Für Tänzer und Choreographen ist Berlin heute das, was früher Paris und New York waren. Die Kulturszene ist einmalig. Berlin ist die ideale Stadt für das, was wir tun.

Die „Schwelle 7“ ist sowohl Bühne als auch Wohnraum der Künstler. Aus Prinzip?  Der Gedanke der Partizipation gehört zum Konzept. Man geht nicht in einen neutralen Raum, sondern in einen Wohn- und Lebensraum. Das ist eine intensivere Annäherung an die Kunst und die Künstler, als sie im Theater möglich ist. Hier wohnen Tänzerinnen und Tänzer, die in den Performances mitwirken, und auch die Teilnehmer der Workshops haben die Möglichkeit, in der Schwelle zu übernachten.
Die Auslastung ist aber sehr unterschiedlich. Es kommt vor, daß ich hier alleine bin – und das genieße ich dann auch. Wir können bis zu 20 Personen in der Schwelle 7 beherbergen, aber natürlich gibt es einen festen Kern. In dem Sinn ist es keine hierarchiefreie Kommune: Wer hier seinen Lebensschwerpunkt hat, hat einen anderen Status als ein Gast, der zum ersten Mal hier ist. Wer regelmäßig hierher kommt, kennt sich aus, weiss, was er benutzen darf, und kennt die Regeln. Das Vertrauen muss eben wachsen– und ich trage hier organisatorisch die Hauptverantwortung. Das kann man auch Hierarchie nennen.

Einen zu großen Publikumsandrang würde die „Schwelle 7“ nicht verkraften. Das Konzept der Annäherung an die Künstler funktioniert nur, solange es nicht zu erfolgreich ist. Macht Ihnen das manchmal Sorgen?Darüber mache ich mir Gedanken, wenn es soweit ist. Es wird ja auch nicht für alles öffentlich geworben, was hier passiert.
Und wie feiert die Kernbelegschaft der „Schwelle 7“ zum Beispiel das Weihnachtsfest? Auf dem Land, in einem Forsthaus in Polen. Wir sehen das als kreative Pause. Natürlich entstehen dort Ideen, aber es wird nicht im eigentlichen Sinn gearbeitet. Mit engen Freunden, Bekannten und Liebhabern sind wir rund 20 Leute. Die Schwelle als Räumlichkeit übernimmt während der Feiertage eine andere Gruppe.
Das künstlerische Projekt ist also auch eine Art Familie?  Ich nenne es Übergangsgemeinschaft. Viele der Schwellen-Gänger haben eigene Familien oder Patchwork-Familien. Es kommen nicht alle schon an Heiligabend nach Polen. Manche stossen später dazu. Wir bleiben ja dort über Weihnachten und Neujahr, insgesamt für zwei Wochen.
Leben Sie überwiegend monogam oder in offenen Beziehungen? Die meisten in unserem engeren Kreis sind nicht monogam, aber das ändert sich phasenweise. Monogamie ist ja allgemein oft nur ein temporärer Zustand. Partner wechseln, trotz der Versuche zusammenzubleiben. Umgekehrt kann man sich als erklärt Polygamer ja auch mal lange Zeit nur auf eine Person konzentrieren.
Heißt das, es gibt keinen Druck, es so oder so zu machen, wie ihn manchmal die 68er-Generation verspürt haben mag?  Nein, den gibt es nicht. Da sind wir schon ein paar Jahrzehnte weiter. Es ist eine persönliche Entscheidung und zum Teil eine Typ- Frage, oder aber auch eine Frage der Lebensphase. Beides – Monogamie und Polygamie – hat Vor- und Nachteile. Ich finde Polygamie spannender, da sie mit den grossen Fragen wie Liebe, Sex und Beziehung offener umgeht. Entscheidend ist sowieso die Kommunikation. Das kann heißen „Ich will nichts verschweigen müssen“ oder auch: „Ich will ein Recht auf Geheimnisse haben“.
Könnte man in einer Groß-WG überhaupt etwas erfolgreich verheimlichen? Theoretisch wäre das möglich, praktisch aber sehr anstrengend. Aber es ist eine Frage der Einstellung, ob und wie weit man das eben will.
Was ist schwieriger über viele Jahre eine monogame oder mehr als eine feste Beziehung zu pflegen? Beides ist nicht einfach. Das Bedürfnis, eine feste Beziehung zu pflegen, war auch ein wichtiger Grund, warum ich nicht mehr soviel reisen wollte.
Unter Nichtkünstlern gelten Künstler oft als schwierige Persönlichkeiten. Gestaltet sich das Zusammenleben in so einem Projekt entsprechend schwer, oder ist das ein Klischee?  Das ist ein Klischee.
In der ªSchwelle 7´ verbinden Sie Arbeit mit Selbstverwirklichung. Das bezahlt man oft mit sozialer Unsicherheit. Kämpfen Sie um das finanzielle Überleben?  Wir sind ein Non-Profit-Unternehmen. Wenn wir uns mit dem finanzieren können, was wir gerne tun, sind wir schon zufrieden. Das ist eine andere Ökonomie, aber es funktioniert nun immerhin seit fast drei Jahren. Regelmäßige Einnahmen haben wir durch Workshops, die wir im Bereich Tanz, Choreographie, Performance-Kunst und Body Art anbieten, aber auch durch die Fördermitglieder des Trägervereins. Für Vereinsmitglieder gibt es jeden Monat eine ªMembers’ Party´; Nichtmitglieder zahlen Eintritt. Außerdem kann ich selbst Geld zuschiessen, das ich mit auswärtigen Projekten verdiene. Das sind Auftragsarbeiten. Das, was in der „Schwelle 7“  gezeigt wird, sind freie Produktionen.

Es heißt, viele Menschen würden krisenbedingt an der Kultur sparen. Merken Sie was davon?  Nein, wir haben seit knapp drei Jahren kontinuierlich steigende Zuschauer- und Teilnehmerzahlen. Aber die Leute kommen auch nicht nur wegen der Vorstellungen. Sie schätzen die Atmosphäre und was hier spontan passiert. Unsere Veranstaltungen sind nur eine Art Fenster nach draußen.
Performance-Kunst und Body Art schließen aus Ihrer Sicht SM-Elemente (Sadismus/Masochismus) wie Bondage, also kunstvolles Fesseln, mit ein.  Neben Yoga-Elementen und anderen. Sadomasochismus oder BDSM (Abkürzung für: Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism) ist ein weites Feld, das viele Inspirationen liefert – und was wir hier praktizieren, ist sehr reflektiert.
In der Wahrnehmung Außenstehender, die damit überhaupt keine Erfahrung haben, ist es natürlich eines der spektakulärsten Elemente der Arbeit hier. Wir versuchen uns bei aller Radikalität immer eine extreme Offenheit und Flexibilität im Denken und Handeln zu bewahren. Wir bieten hauptsächlich Tanzseminare an, daneben Kurse, die sich praktisch-technischen Fertigkeiten des SM-Spiels widmen, oft aber auch theoretische, ästhetische oder philosophische Aspekte von BDSM behandeln. Die Schwelle7 versucht, Verbindungen, Parallelen und Schnittstellen zwischen diesen Welten zu erforschen. Zwischen Yoga und BDSM zum Beispiel. In beiden Fällen arbeitet man mit körperlichen Grenzen, um positive Wirkungen zu erzielen. Wir verwenden diese Elemente auch, um Realitäten zu zeigen, die da, aber nicht offensichtlich sind.

Ist das nun politisch oder spirituell gemeint? Eher psychologisch. In jeder Kommunikation gibt es einen Subtext und Gedanken hinter dem, was gesagt wird.

Eine Soloperformance, in der Dasniya Sommer sich selbst gefesselt hat, war in diesem Jahr in der Reihe „Lounge“ des Fernsehsenders Arte zu sehen. Im Internet wurde heftig darüber diskutiert, ob das gesundheitsschädlich ist. Wie gefährlich ist es aus der Sicht eines Choreographen im Vergleich zum Spitzentanz?  Auf Spitzenschuhen zu tanzen ist auf jeden Fall belastender für die Gelenke und erfordert auch deutlich mehr Training. Bondage kann man sehr bequem gestalten, wenn man entsprechend viele Seile nimmt. Das kann wie eine Hängematte sein. Aber so, wie Dasniya das macht, gehört schon viel Training dazu. Der Grund für die Aufregung darüber dürfte mit dem sexuellen Bezug zu tun haben. Das macht BDSM-Elemente so spektakulär, obwohl mancher Hochleistungssport gesundheitlich viel riskanter ist.
Die Bandbreite der Musikstücke, die Sie für Ihre Inszenierungen verwenden, ist sehr groß. Hat sie Grenzen?Im Prinzip nein. Sie reicht von klassischer bis zu elektronischer Musik, die ich zum Beispiel für „Secret Service“ verwendet habe. Die Zuschauer mussten Nummern ziehen, die dann in roter Leuchtschrift auf einer Digitalanzeige erschienen, bevor sie mit schwarzen Masken durch ein Labyrinth aus Körpern und Bewegungsimpulsen geführt wurden. Zu dieser primär körperlichen Wahrnehmung passte die elektronische Musik. Es ist eine Frage des Konzepts.
Wenn es dramaturgisch passt, würden Sie also auch Musik verwenden, die Sie selbst nicht gerne hören, beispielsweise um etwas Verstörendes auszudrücken? Ja. Es gibt allerdings eine große Überschneidung zwischen dem, was ich gern höre, und dem, was ich verwende. Schließlich muss ich es dann auch ziemlich oft hören. Zum Glück habe ich einen breitgefächerten Musikgeschmack. Manchmal experimentiere ich mit Kontrasten. Zum Beispiel hatte ich für die „Farm“ Performance  Musik von Abba ausgewählt – seifig-populäre Klänge zu einer Inszenierung mit drei Körpern, die emotionslos und pragmatisch im Raum ausgestellt und mit verschiedenen Materialen konfrontiert werden. Die Weichheit und Glätte der Körper kontrastiert mit der Rauhheit und Festigkeit von Konstruktionsmaterialien. Dabei können Assoziationen wie Fabrik, Farm, Labor und Lager entstehen. Die Körper sind anonymisiert, identitätslos und auch weitgehend von Bewegungssprache befreit, organisches Material, Rohstoff und Aufzucht. Ich habe mich dann allerdings doch gegen Abba entschieden und Musik von den Gypsy Kings verwendet. Dieser Flamenco-Touch paßte für mich dann doch besser. Aber am liebsten arbeite ich direkt mit Komponisten.

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Raum und Zeit werden neu gestaltet
Der Choreograph Felix Ruckert über die Verbindung von Tanz und BDSM. Fragen von Klaus Kieser und Stina Pollmann  Erschienen in tanzjournal 4/07. Mit freundlicher Genehmigung des Friedrich Berlin Verlags.
 www.tanz-journal.de  

Felix Ruckert gehört zu den umstrittensten jüngeren deutschen Choreographen. Denn seine Stücke sprengen regelmäßig Publikumserwartungen, experimentieren häufig mit der Beziehung zwischen Zuschauern und Performern. 1959 geboren, absolvierte Ruckert seine Ausbildung an der Essener Folkwang-Hochschule sowie in Paris und New York. Bereits während seines Studiums begann er zu choreographieren und erhielt Preise bei Choreographiewettbewerben in Cagliari, Hannover und Paris. 1987/88 war er Mitglied von Neuer Tanz und tanzte anschließend in Frankreich, bevor er 1992 Mitglied des Tanztheaters Wuppertal wurde. Zwei Jahre später machte er sich als Choreograph selbständig. Mit Hautnah, dessen erste Fassung 1995 entstand, konnte er sich wegen des ungewöhnlichen Konzepts einen Namen machen: Das Stück besteht aus Soli, die den Zuschauern einzeln dargeboten werden. Schon früh thematisierte Ruckert in seinen Arbeiten Sexualität und stellte Aufführungskonventionen in Frage. Ring (1999), Secret Service (2002) oder United Kingdom (2006) sind interaktive Projekte, während etwa Messiah Game (2004) oder das soeben in Hamburg uraufgeführte Betwixt and Between – Tito in Indien (siehe S. 53f.) Choreographien für eine konventionelle Bühne sind. Im Frühjahr dieses Jahrs hat Ruckert in Berlin einen eigenen Performanceraum eröffnet: schwelle 7, annonciert als Ort für »Tanz, Yoga, BDSM« (BDSM ist ein Kunstkürzel für »Bondage und Disziplin, Dominanz und Submission, Sadismus und Masochismus«).


Was war der Grund für die Eröffnung von schwelle 7?
Es gab mehrere Gründe. Ein wichtiger Auslöser war, daß mir in Berlin die Förderung durch den Senat gestrichen worden war. Das war frustrierend für mich. Ich will daher jetzt so weit wie möglich heraus aus den Förderstrukturen, von denen man als Choreograph so abhängig ist. Darum der Wunsch, es mit einer eigenen Produktionsstruktur zu versuchen. Es soll der Versuch sein, außerhalb des etablierten Fördersystems zu arbeiten. Zudem wollte ich einige meiner früheren Projekte wiederaufnehmen, die nicht für einen klassischen Theaterraum gemacht sind, wie Secret Service. In erster Linie möchte ich meine eigene Arbeit weiterentwickeln, aber auch einen Raum schaffen für ein innovatives Programm von Workshops und neuen Formen partizipativer Performance. Vor allem möchte ich hier eine künstlerische Arbeit machen, die Tanz mit Wissen auf Gebieten wie Sexualität, Philosophie oder auch Therapie verknüpft.

Wie kam es dazu, BDSM eine zentrale Rolle in Ihrem Konzept zu geben?
BDSM ist ein weites Feld. Ich habe viele Ideen, Inspirationen aus BDSM gezogen, für den Tanz, für meine künstlerische Arbeit. Und ich brauchte einfach einen Ort, an dem man eine Verbindung zwischen BDSM und Tanz herstellen kann. Das können die SM-Klubs nicht leisten, wollen das auch nicht, weil es dort nicht um Recherche geht. Es gibt einen großen Unterschied zwischen einem Klub, in dem SM gespielt wird, und einem Ort wie schwelle 7, an dem die Dynamik des SM-Spiels praktisch untersucht und reflektiert wird. So, wie es einen Unterschied gibt zwischen einem Klub, in dem einfach nur getanzt wird, und einem Tanzstudio, in dem Pliés geübt werden. Yoga kam dazu, weil es Parallelen zu BDSM hat. Es arbeitet mit körperlichen Grenzen, um positive Wirkungen zu erzielen. Wie BDSM trainiert es Geduld, Disziplin, Konzentration und Hingabe. Es übt die Unterscheidung zwischen positivem und schädigendem Schmerz. Yoga hat außerdem eine heilende, stabilisierende und harmonisierende Wirkung, die eine gute Basis schafft für das Experimentieren in körperlichen Grenzbereichen. Vor 25 Jahren, als ich Ballett studierte, galt Yoga noch als esoterischer Hokuspokus, jetzt ist es im Mainstream angekommen. Mit BDSM wird es nicht anders sein.

Wo sehen Sie die Verbindung zwischen Tanz und SM?
Eine Parallele ist die Inszenierung. In beiden Praktiken wird Raum und Zeit neu gestaltet. Eine Situation wird geschaffen, die außerhalb der normalen Lebensrealität steht und in der die gewöhnlichen Verhaltenskodes nicht gelten, die üblichen Grenzen neu verhandelt werden. Das kann sehr befreiend und lehrreich sein. Eine andere Parallele ist das Spiel. Der Raum, der dem Instinkt, der Intuition, den Manifestationen des Unbewußten gelassen wird. Beide Praktiken trennen Verstand und Gefühl nicht voneinander, sondern suchen die Verbindung. Es geht um Präsenz, Fließen, Kommunikation. In beiden Formen wird viel mit sexueller Energie gearbeitet, der Tanz ist aber etwas feige, versucht immer, schön und sauber zu bleiben. SM spielt auch mit Identität und Sexualität: zwei Bereiche, die stark emotional besetzt sind. Wo der Tanz zurückschreckt, geht SM weiter. Die SM-Techniken sind ideal dafür geeignet, sich in einem sicheren Rahmen negativen Emotionen wie Angst, Schmerz, Trauer und Wut anzunähern. Die Körperlichkeit ist die Basis, aber im Gegensatz zur tänzerischen Recherche werden auch das Böse, das Unangenehme und das Sexuelle mit einbezogen.

Spiegelt sich in Ihren Stücken Ihre persönliche Beschäftigung mit SM wider?
Gerade weil der Tanz das Sexuelle zwar benutzt, aber nicht direkt thematisiert, spielt dort das Unausgesprochene immer mit hinein: Es beeinflußt die Beziehungen zwischen den Tänzern, zwischen Tänzer und Choreograph, zwischen Tänzern und Publikum. Und genauso ist es mit den Machtverhältnissen zwischen den Beteiligten. Die vorhandenen Machtverhältnisse werden auf der Bühne nicht thematisiert, sie werden nicht kreativ genutzt, sie sind einfach nur Teil der Realität. Ich habe angefangen, diese beiden Phänomene, Sexualität und Macht, in meinen Produktionen zu untersuchen, bewußt damit zu arbeiten. Ich will mit Hautnah beginnen. Die erste Idee war, ein Solo für einen Tänzer zu kreieren, weil ich bis dahin meist mit Gruppen gearbeitet hatte. Ich fand die Situation mit dem Tänzer sehr inspirierend: Er tanzt für mich, ich versuche etwas aus ihm herauszuholen, er will etwas, ich will etwas, und es kommt dann etwas Drittes heraus. Erst im nachhinein erkannte ich, daß diese Arbeit mit dem Tänzer in gewisser Weise schon ein klassisches SM-Spiel war. Ich bringe den anderen an eine Grenze, damit etwas Neues entsteht. Dies ist mein Begriff von SM, der sehr weit gefaßt ist, wie auch mein Begriff von Sexualität sehr weit ist. Nach Hautnah kam Ring. In Ring sind die Tänzer explizit liebevoll zum Publikum, überschütten den Zuschauer mit einer Überdosis an Aufmerksamkeit, auf sehr konsequente und konstante Weise; man nimmt wahr, daß es sich um ein Artefakt handelt, trotzdem funktionieren die emotionalen Reflexe, der Zuschauer fühlt sich geliebt. Es ist also der Versuch, ein Machtspiel sicht- und fühlbar zu machen. Dieses Stück wurde oft etwas abfällig als therapeutische Kunst bezeichnet. Ich habe das nie so empfunden und halte Ring gerade wegen seines manipulativen Charakters für sehr konfrontativ. Niemand läßt sich durch ein paar Streicheleinheiten therapieren. Das brachte mich auf einen neuen Gedanken: Darf denn Kunst nicht therapeutisch sein, darf Therapie keine Kunst sein? Wo es doch offensichtlich ist, daß sich jeder Künstler auch selbst therapiert mit seiner Arbeit. Und was ist daran falsch? Warum dieser Widerstand gegen Kunst, die berührt? Würde es nicht gerade für den Tanz sinnvoll sein, sich mehr Wissen über die Zusammenhänge zwischen Psychologie, Persönlichkeitsstruktur und körperlichem Ausdruck anzueignen? Warum sollte ich mich als Tänzer nur mit meiner Anatomie beschäftigen? Sollte ich nicht auch meine Gefühlslandschaft erforschen?

Viele Ihrer Arbeiten entziehen sich einer eindeutigen Zuordnung. Steht dahinter ein ästhetisches Prinzip?
Warum werden Schubladen geschaffen? Es hat damit zu tun, Ordnung zu halten, auch bei sich selbst. Strukturen vermitteln Sicherheit. Gerade wenn man künstlerisch arbeitet, kann man vieles gar nicht trennen. Das ist ein wichtiges Thema für mich geworden: Trennungen zu überbrücken. »Schwellen« zu schaffen. Nach Ring dachte ich, Therapie beschäftige sich ja eher mit dem Unangenehmen, mit dem, was man nicht so gern wahrnimmt. Man könnte es jetzt mal mit bösartiger Interaktion versuchen, also die Konfrontation, den Konflikt, die Herausforderung inszenieren. So entstand Secret Service. Die Tatsache, daß wir nicht nett zum Publikum waren, ihm – natürlich kontrolliert und in Maßen – Angst, Schmerz und andere negative Sensationen zufügten, kam überraschenderweise sehr positiv an. Vielleicht, weil die Aggression im Verhältnis zum anderen normalerweise – natürlich aus gutem Grund – eher unterdrückt wird. Hier gab es aber ein Ventil für den Wunsch nach Aggressivität, sowohl in passiver als auch in aktiver Hinsicht. Im Lauf der Vorbereitungen zu Secret Service begann ich mich mit SM zu beschäftigen. Ich wollte etwas über Schmerz lernen. Ich hatte bis dahin nur Klischees im Kopf gehabt, fand dann aber diese »Entdeckung des Bösen« als sehr bereichernd. Also ging ich in Klubs und habe zum Glück schnell Menschen kennengelernt, die SM mit Intelligenz und Empathie betreiben.

Was hat Sie bei Ihrer Recherche am nachhaltigsten beeindruckt?
Sex soll ja schön sein, ekstatisch, berührend. Es gibt aber keine Schulen dafür, und deswegen wird einfach im Privaten damit improvisiert und experimentiert, das Ziel ist vor allem Lustgewinn oder die Vertiefung einer Liebesbeziehung. Es findet aber keine Analyse statt, es fehlt das Systematische, der Vergleich. Wenn ich Tango lerne oder Kontaktimprovisation, arbeite ich mit einer Vielzahl von Partnern und erarbeite mir mit diesen Erfahrungen langsam eine Technik. Das ist mit Sexualität so nicht möglich. Natürlich wird man einwenden, daß Sex ja nicht nur eine Technik ist, sondern mit Liebe zu tun hat, aber das ist ja beim Tango nicht anders. Die persönliche Chemie spielt immer eine Rolle. Auch Kochen sollte man immer mit Liebe, aber es schadet nichts, ein paar Rezepte zu kennen. Wer SM betreibt, hat Zugang zu den Rezepten, nämlich zu Emotionen wie Angst und Vertrauen, Schmerz und Lust, Kontrolle und Kontrollverlust, Frechheit und Scham. Sex ist Eindringen, Überwältigen, Besitzen, aber auch Öffnen, Hingeben, Loslassen. Und das meine ich ganz unabhängig von weiblichen oder männlichen Rollenklischees. Ich würde sogar behaupten, Sex findet gar nicht zwischen Mann und Frau im genitalen Sinn statt, sondern zwischen den Polen einer männlichen und weiblichen Energie. Mann und Frau als sexuelle Identitäten sind kulturelle Fiktion. Sexuelle Spannung entsteht zwischen den Polen Dominanz und Unterwerfung, zwischen Nehmen und Geben, zwischen Eindringen und Öffnen. Deswegen spielen ja auch Lesben mit Dildos. Sex ist also ein Machtspiel, ein Spiel mit Emotionen, und wenn dies bewußt geschieht wie im SM – der Penis kann durch den Dildo oder die Peitsche ersetzt werden –, macht es das Genitale, und damit die Unterscheidung in Mann und Frau, oft überflüssig. Und da das Genitale im SM oft gar nicht stattfindet, kann halt viel mehr mit verschiedenen Partnern und unterschiedlichen sexuellen Identitäten gespielt werden. SM berührt viele Dinge in uns gleichzeitig, es hat ein riesiges transformatives Potential, und das wiederum hat mit Kunst zu tun. 

Wie erfolgte Ihr Zugang zu SM?
Anfangs erforschte ich die rein körperliche Ebene: unangenehme körperliche Empfindungen wie Schmerz, Belastung, Behinderung und Einschränkung. Ich merkte sehr schnell, daß schon der Schmerz in sehr verschiedenen Formen auftritt. Es gibt nicht Schmerz an sich. Es gibt schneidenden, drückenden, scharfen, pulsierenden Schmerz und vieles andere mehr. Jeder Schmerz hat andere körperliche und emotionale Wirkungen. Und es gibt viele Arten, damit transformierend umzugehen. Im Zusammenhang mit Sport und Arbeit zum Beispiel wird Schmerz positiv bewertet, er macht zum Helden. Der Kontext beeinflußt dort ganz wesentlich die Wahrnehmung. Es ist ganz schwer, rein körperlichen Schmerz zu erzeugen, weil man schneller Angst vor dem Schmerz produziert und mit Gefühlen wie Demütigung oder Scham konfrontiert ist. Alles, was reiner Schmerz ist, ist im Grunde positiv. Denn man spürt sofort, wenn einem eine körperliche Manipulation widerfährt, die eine echte Gefahr für den Körper bedeutet. Da reagieren wir sofort mit Widerstand, das kontrollieren wir instinktiv. Man fügt sich keinen Schaden zu, schon gar nicht im SM-Spiel. Man dosiert genau, was man will, denn nur dann ist es eine positive Erfahrung.

Welche Auswirkungen hatten diese Erkenntnisse auf Ihre Arbeit?
Nachdem ich selbst ein bißchen experimentiert hatte, habe ich die Kompanie mit diesen Techniken bekannt gemacht. Und das war die nächste Überraschung. Für meine Tänzer war all das relativ einfach zu adaptieren, denn sie kannten das Prinzip aus dem Tanz. Man macht dort ständig Dinge, die potentiell gefährlich sind und weh tun, und man sucht einen Weg, daß es gut geht. Tänzer gehen ja im Training oft in Haltungen, von denen sie zwar wissen, daß sie weh tun, aber auch, daß sie dem Körper nicht schaden, zum Beispiel Yogapositionen, Belastungen durch Gewicht oder extreme Dehnungen. Das ist ein rationaler Vorgang, eine Disziplin: Etwas Unangenehmes zu akzeptieren für eine positive Nachwirkung. Ich forderte die Tänzer einmal als Übung auf, nicht vernünftig zu agieren, sondern zu versuchen, intuitiv zu sein, sich ohne Plan oder Erwartung weh zu tun. Überraschenderweise war das sogar noch effizienter. Der Instinkt leitet einen automatisch dahin, wo der Körper Aufmerksamkeit braucht, wo etwas, was nicht präsent ist, durch Schmerz stimuliert werden will. Wenn ich mich strecke und recke, wenn ich mich kratze oder auf den Lippen kaue, ist das im Grunde nichts anderes. Der nächste Schritt ist, daß man sich nicht selbst etwas antut, sondern einer anderen Person. Und da gibt es das gleiche Ergebnis, sowohl bei der strukturierten Herangehensweise als auch bei der instinktiven: Man vermeidet intuitiv Schädigungen. Sofern man ein normal empathischer Mensch ist, funktionieren diese Sicherungen ganz automatisch; ein Psychopath handelt natürlich anders, aber Psychopathen gehen ja auch nicht reflektiert mit ihren »Monstern« um. So kann man aber beim SM auch das eigene Psychopathische entdecken und, in gewissem Maß, sogar zulassen. Und das fühlt sich dann sehr gut an.

Messiah Game bedeutete dann einen weiteren Schritt vorwärts, oder?
Ja. Ich habe mich nach Secret Service näher mit Gefühlszuständen befaßt. Beim SM-Spiel ist es ja so, daß einige Praktiker, die Sadisten und Masochisten, nur mit körperlichen Empfindungen spielen, andere aber zusätzlich oder ausschließlich mit Macht. Da geht es dann mehr um Emotionen, um das Unangenehme, das Böse auf Gefühlsebene: Angst, Wut oder vielleicht Scham. Das wurde Thema von Messiah Game: das Spiel mit Macht. Zur Vorbereitung haben wir mit einer Therapeutin gearbeitet, die unsere Gefühlswelten und die Dynamik in der Gruppe analysiert hat. Das alles war für uns sehr interessant, weil wir gemerkt haben, wie eng das mit der Schauspielerarbeit zusammenhängt. Jede Machtsituation kreiert ein emotionales Verhältnis und damit auch Rollen. Sehr vertraut ist uns das beim Lehrer-Schüler-Verhältnis. Ich habe bei der Arbeit an Messiah Game erkannt, daß Macht deshalb ein so wirkungsvolles Instrument ist, weil es Menschen sehr schnell an ihre Emotionen bringt. Allerdings kommt man bei Tänzern rasch an die emotionale Grenze. Das hat damit zu tun, daß Tänzer es gewohnt sind, Emotionen körperlich auszudrücken. Sie lernen in ihrer Ausbildung, Dinge formal zu tun. Doch jede Bewegung hat auch eine emotionale Ebene. Die ist einfach da. Und durch die andauernde Wiederholung lernen Tänzer eine Kontrolle von Emotionen, sozusagen Bewegung getrennt von der immanenten Emotion zu leisten, sozusagen den Gefühlsausdruck markieren zu können. Ich merkte aber, daß das ein noch umfassenderes Arbeitsfeld ist als die »Schmerzsache«: Emotionen zu verstehen, um damit kreativ zu arbeiten.

Wie erklären Sie sich die bisweilen heftigen Reaktionen auf Messiah Game?
Bei Messiah Game hatte ich das Gefühl, daß die Zuschauer emotional nicht bei den Tänzern sind und gar nicht recht spüren, was mit den Tänzern passiert. Im Unterschied zu Secret Service: Da kommen Leute zu uns, mit denen wir letztendlich eine SM-Geschichte machen. Die Menschen nehmen sich aber selbst und die Tänzer lustvoll und spielerisch wahr. In Messiah Game arbeiten wir zwar mit dem gleichen Material, aber wir zeigen, führen auf, was die Zuschauer in Secret Service selbst erleben. Ich hatte gedacht, daß die Zuschauer diesen Sprung mitmachen würden. Aber ich mußte feststellen, daß das Spielen mit Situationen und Bildern von Gewalt bei den Zuschauern enorme Projektionen auslöst. Mancher wollte auf die Bühne springen, um die Tänzer zu retten. Andere waren empört über deren vermeintliche Ausbeutung. Leute, die mit SM zu tun hatten, konnten das Spielerische eindeutig empfinden. Viele andere hingegen waren schockiert, oder es ließ sie völlig kalt. Die Wahrnehmung des Stücks hing stark von den Erfahrungen ab, die der Zuschauer bereits mit seinem eigenen Körper gemacht hatte. Und die gewagte Grundthese des Stücks – Jesus als Machtspieler – und das Spielen mit der Ikonographie lenkte eher noch ab vom Nachempfinden.

Wie nehmen Sie Tanz wahr?
Ich erfahre Tanz nicht nur visuell, sondern vielmehr kinetisch. Ich fühle die Energie, kann der Dynamik nachspüren. Das ist vielleicht mein Talent; ich spüre sehr schnell, wie jemand körperlich strukturiert ist, was seine Bewegungsmuster und Qualitäten sind, wie sich sein momentaner Zustand anfühlt. Das nutze ich beim Tanzen mit anderen und beim Choreographieren. Diese Wahrnehmung ist zum Teil eine Begabung, zum Teil eine erlernte Sensibilität.

In welche Richtung könnte Ihre zukünftige Arbeit gehen? 
Die Erfahrungen und – ich nenne das jetzt mal wirklich so – Bewußtseinserweiterungen, die die Tänzer und ich gemacht haben, will ich dem Zuschauer zugänglich machen. Wenn man partizipative Formen weiterentwickeln will, kann das nicht allein auf künstlerischer Seite passieren, sondern muß zusammen mit dem Zuschauer stattfinden. Ich denke darüber nach, Performances in direkter Kollaboration mit dem Publikum zu entwickeln. Groß angelegte Rollenspiele zum Beispiel wie United Kingdom. Tanz vermittelt sich für mich am besten von Körper zu Körper, direkt, weil es eben, im Unterschied zur Musik, kein Medium zur Speicherung von Tanz gibt. Man kann ja nicht das Gefühl einer Pirouette speichern. Das macht den Tanz auch zum Glück so schwer kommerzialisierbar. Die Zukunft des Tanzes liegt für mich in der Partizipation, dort, wo man die Feinheiten empathischer und physischer Kommunikation trainiert. 



Schwelle 7 - ein neues Zentrum für Sinnlichkeit, experimentelle Grenzerfahrungen und Bewegung in Berlin

Von Christine Janson aus Connection special 81: 
Den Choreographen Felix Ruckert haben wir im letzten Tantra-Sonderheft interviewt, und sein Wunsch nach einem eigenen Erlebnisraum hat sich nun erfüllt. Im Frühjahr dieses Jahres wurde die Schwelle 7 ins Leben gerufen - der neue Spiel- und Arbeitsort der Compagnie Felix Ruckert in Berlin.
Schwelle 7 ist experimenteller Körperarbeit und Körpererforschung gewidmet, vor allem aber dem Spiel, der Zauberei und sanftem Wahnsinn. Hier soll ein weltweit einzigartiges Workshop- und Performanceprogramm angeboten werden, das der Produktion, Kommunikation und Reflektion von Schwellenerfahrungen gewidmet ist. Schwellenerfahrungen, die in einem sicheren, definierten Raum erlebt werden können, dienen der Selbsterfahrung und der Bereicherung des eigenen Lebens und Erlebens.
Das Besondere an diesem Ort ist die Vielfalt der sehr unterschiedlichen Angebote, die von Yoga und Körperarbeit über Psychotherapie, politische Aktionen, Theater, Tanz und Performance bis hin zu BDSM reichen. Schwelle 7 möchte die verschiedensten Subkulturen miteinander in Kontakt bringen, und relativ kostengünstig soll jedem Teilnehmer ermöglicht werden, sich selbst neu zu entdecken.
In den Räumen von Schwelle 7 wird diesmal auch die Xplore 07 stattfinden, ein dreitägiges Event vom 27. - 29.7.2007 mit Workshops, Performances und Party zum Thema "Extreme Sinnlichkeit - Sinnliche Extreme".
Info: www.xplore-berlin.de



Schwelle7

Interview vom Maren Witte mit Felix Ruckert über sein neues Studio schwellesieben
Erschienen in TanzRaum/ Berlin 3/07

Maren Witte: Was hat dich dazu bewogen, Ende März 2007 dein eigenes Studio schwellesieben1 im Berliner Wedding (Uferstr. 6) aufzumachen?
Felix Ruckert: Da gibt es zwei Gründe: Einmal war ich frustriert, weil mir die Senatsförderung gestrichen worden war. Ich hatte keine Lust, einfach nur so weiterzumachen und wieder projektbezogene Förderung zu beantragen. Ich spürte die seltsame Abhängigkeit von dem Fördersystem. Also wollte ich was machen, was außerhalb von den beschränkten Förderstrukturen funktioniert. Zum anderen brauche ich für die Projekte, die ich in letzter Zeit mache, einen speziellen Ort. Denn was ich mittlerweile mache, passt nicht in das Schema der etablierten Kulturhäuser: Einmal ist es etwas für ein Theater, dann für ein Museum, dann eher für einen Club, dann wiederum für ein Tanzstudio. Ich mache das weiter, aber das Problem wird immer deutlicher: Die verschiedenen Strukturen der einzelnen Institutionen geben jeweils bestimmte Vorgaben vor: Im Theater ist per Definition kein Licht, im Museum hingegen gibt es für manche meiner Projekte zu viel Licht. Für mich war es nun interessant, einen Ort zu konzipieren, der genau passt. Ich werde hier Performances veranstalten, die sowohl von mir als auch von Gästen konzipiert worden sind.

M.W.: Du willst eine Plattform für Schwellenerfahrungen anbieten. Diese Erfahrungen macht man in den unterschiedlichsten Situationen des Lebens, am bekanntesten sind vielleicht die Schwellen zu Orgasmus, Ohnmacht, Geburt, Schlaf und Tod. Welche gibt es noch? Und welche Experten lädst du dazu ein?
F.R.: Darüber denke ich derzeit selbst noch nach, wie man Schwellenerfahrungen systematisieren kann. Momentan ist der erste Gedanke, dass der Weg zu einer Schwellenerfahrung mit einem Gefühl hat zu tun. Dieses Gefühl ist entweder positiv oder negativ. Das ist bereits eine Möglichkeit zu systematisieren: Man überlegt, was es für Gefühle gibt, und wie man sie kontrolliert erzeugen kann. Denn bei den von dir genannten Phänomenen passiert einem das Erlebnis einer Schwellenüberschreitung einfach so. Es sind Ausnahmezustände. Und Ausnahmezustände passieren im ganz normalen Alltag: Du gehst in eine Ballettstunde und siehst dich sofort mit vielen Gefühlen konfrontiert: Angst, Neugierde, Aufregung, Scham, weil der Anzug nicht passt etc. Dieser Systematisierungsvorgang stammt von meinem TOOLS System, das ich seit längerem weiterdenke im Bereich der Emotion: nach Raum, Zeit, Körper und Sensation folgt für mich die Emotion.
Und das Prinzip der Schwellenerfahrung dient mir für mein Studioprojekt hier als konzeptioneller Aufhänger. Schwellenerfahrung macht jede/r, wie schon gesagt, in einer normalen Tanzstunde. In meinem Studio aber möchte ich, dass man sie bewusst produziert, weil es in der Tanzschule (zumindest offiziell) nur nebensächlich ist, inoffiziell aber vielleicht auch schon wieder eine Hauptsächlichkeit: Letztlich möchte sich der Typ, der in die Tanzschule geht, neu erfinden. Er möchte neue Körpererfahrungen machen, drum geht er boxen oder Salsa tanzen. Jedoch in bezug auf schwellesieben möchte ich das nicht gleich so dramatisieren: Hier soll es nicht extrem werden, es geht nicht immer um Grenzüberschreitungen. Eher geht es um die Schwelle als Idee von Verbindung (eine Türschwelle beispielsweise verbindet draußen und drinnen). Es geht nicht darum, diese Schwelle mit aller Gewalt zu überschreiten, sondern vielmehr dort „in-between“ zu verharren. Das „in-between“, das Dazwischen hat wiederum mit der Frage nach der Aufhebung von Trennungen zu tun: der Trennung von Kunst und Leben, von Hoch- und Populärkultur, von Tanz und anderen Bereichen. In dieser Aufhebung sehe die interessanten Entwicklungen.

M.W.: Du sprichst auf deiner Website vom rituellen Erzeugen von Schwellen-erlebnissen. Welche Riten/Rituale praktizierst du mit deinen Gästen? Was ist das Rituelle an diesen Praktiken? Ich meine: Gehört zum Ritus nicht die gleichmäßige, regelmäßige Wiederholung? die Gruppe/Sippe/Familie? Das Eingebettetsein in soziale Kontexte? Wo siehst du dies bei schwellesieben? Ich meine: Jemand, der bei dir in einem Workshop ein wirkliches Erlebnis von Schwellen-Überschreitung etc. macht und anschließend nach Hause geht, braucht der nicht Betreuung? Eine Gruppe, die ihn auffängt? Einen Therapeuten? Stehst du da nicht in der Verantwortung?
F.R.: Ich habe die Wiederholung bei meiner Produktion United Kingdom neu entdeckt. Da haben wir beispielsweise Rollenspiele mit Tierfiguren gemacht und dieses Spiel an mehreren Tagen hintereinander mit exakt denselben Rollenverteilungen wiederholt. Das hat ergeben, dass die Teilnehmer gleichzeitig sicherer und mutiger wurden, weil sie ihre Rolle bereits kannten. Diese Erfahrung nehme ich in mein Workshopkonzept für schwellesieben auf: Ab Mai bieten wir hier Kurse an, die sich über drei Monate erstrecken und systematisch mit dem Prinzip der Wiederholung arbeiten. Bei dieser Konzeptionierung unter dem Aspekt der Wiederholung haben mich übrigens auch meine Aufenthalte in Japan beeinflusst: Die Teezeremonie beispielsweise oder das Bogenschießen. Das sind einfache Akte, Tee zu kochen und zu trinken. Doch sind sie so ritualisiert, dass der Ablauf in seinen vielen Einzelschritten immer mehr an Bedeutung gewinnt. Es heißt, sich auf eine Aktion zu konzentrieren und sie in Variationen durchzustudieren, unter immer neuen Aspekten. Auch Lernvorgänge funktionieren nach diesem Prinzip. Lernen hat mit Wiederholung zu tun. Beim Ballett ist das ja genauso: Tendus und Pliés werden unter neuen Aspekten immer wiederholt. Ich will jedoch einen neuen Akzent darauf setzen, dass man jede Handlung diesem Prinzip unterwerfen kann: Wenn etwas, das ich tue, für mich Bedeutung hat, wird es ritualisiert, indem es wiederholt wird. Stell Dir beispielsweise vor, immer wieder einen Text zu schreiben, täglich zum selben Thema einen neuen Text zu schreiben.
Zum zweiten Teil deiner Frage, also der Frage nach Betreuung und Verantwortung: Es geht mir nicht darum, die Leute in Extremsituationen zu bringen. Seltsam, dass du das assoziierst. Es geht um die Schwelle, und die ist meines Erachtens nicht bedrohlich. Es geht um Ermächtigung. Wir wollen Werkzeuge vermitteln die der Emanzipation dienen. Wir bereiten hier ein Feld, wo man Sachen ausprobieren kann. Das steckt für mich in dem Begriff der Schwelle. Darüber hinaus ist eine Schwelle auch etwas, das verbindet: die Menschen mit Menschen, die Menschen mit Erlebnissen und Erinnerungen. Natürlich wird es mit den Experten hier Leute geben, die in unterschiedlichsten Bereichen Erfahrung haben. Sie werden als Dozenten Prozesse begleiten.

M.W.: Schwelle als Ziel und Juxtaposition als Methode ein Wort dazu?
F.R.: Juxtaposition verstehe ich als räumliches Nebeneinanderstellen bzw. als zeitliche Überlagerung von Dingen, die nicht notwendigerweise etwas miteinander zu tun haben. Auf schwellesieben bezogen heißt das, dass wir hier nicht sagen, dies ist ein Tanzstudio, wir machen hier nur Tanz. Wir versuchen gar nicht, unser Tun inhaltlich zu definieren, sondern es kommen hier einfach ganz unterschiedliche Dinge zusammen, die einfach hier hereingetragen werden von Leuten, die Lust haben, hier etwas zu machen. Ich habe das initiiert, und deshalb wähle ich erstmal diejenigen, die ich kenne. Aber wird sind absolut offen für Ideen. Es muss hier auch eine gewisse Unordnung herrschen in bezug auf die Vorschläge, die kommen. Das bezieht sich auch auf das Genre und die Interdisziplinarität der Angebote: Performance mit Spiel, Lecture mit Tanz, Workshop mit Reading Group. Wenn wir die Juxtaposition konsequent als Methode anwenden, führt sie uns zu Neuem, weil Ungewohntes miteinander kombiniert wird. Das ist dann schon Schwellenerfahrung.

M.W.: Wie eröffnest du Ende März dein Haus? Was steht auf dem Programm? Wen erwartest du?
F.R.: Die Eröffnung ist gutes Beispiel für den Begriff der Juxtaposition: Wir machen am 24. und 25. März für 36 Stunden das Studio auf: von Samstag Mittag bis Sonntag Nacht. In dieser Zeit gibt es kein Programm in dem Sinne dass ein zeitlicher Ablauf festgelegt wird. Es gibt Leute, die ich gebeten habe, etwas vorzubereiten. Das kann eine Performance sein, aber nichts ist festgelegt. Es wird Zonen geben, Areale, Angebote und die Erwartung, dass die Leute, die zur Eröffnung kommen, etwas mitbringen, das sie teilen können: Dies kann ein Kasten Bier sein oder ein Gedanke, ein Vortrag oder ein Spiel oder eine Haltung, eine Figur, ein Charakter. Ich will nicht, dass die Leute als bloße Konsumenten kommen. Dies ist Übrigens auch Teil des Mottos hier: keine Konsumenten, nur Teilhaber.

M.W.: Im Programm von schwellesieben findet sich auch eine „Reading Group Bataille“? Kann man durch Lesen Schwellen erfahren? Schwellen überwinden?
F.R.: Sicher! Findest du nicht? Es kommt natürlich immer darauf an, wie gelesen wird, und was gelesen wird, und wie der Kontext ist. Bei Bataille war das erste Treffen schon eine Schwellenerfahrung. Es war sehr interessant, denn eine Hälfte der Gruppe war universitäre Strukturen gewöhnt, hatte den Text schon gelesen und war sozusagen „bereit“. Die anderen wussten nicht, was eine Reading Group ist, hatten nichts gelesen und dachten, dass das Lesen in der Gruppe passiert. Also wurde erstmal diskutiert, was für ein Konzept der Gruppe zugrunde liegt. Ob man erst im Moment liest oder schon vorher, und wer es überhaupt ist, der liest. Wir haben also zusammen gelesen und gemerkt, dass das Lesen sehr unterschiedlich ist je nachdem, wer liest. Es gab unterschiedliche Interpretationen: einer liest autoritär, einer eher fragend. Der erste Abend war für den Dozenten eine deutliche Schwellenerfahrung, weil die Leute sehr kreativ mit dem Begriff der Reading Group umgegangen sind. Es gab auch Wünsche, das Lesen als Spiel zu inszenieren: mit räumlichen Ideen, mit Kostümen oder so. Hier kommt auch wieder die Idee von Juxtaposition zum Tragen: Immer wird Sinnnvolles und Sinnloses, Funktionelles und nicht Funktionelles zusammen gebracht.

M.W.: Und welche Bedeutung hat der Tanz noch in dieser Struktur? Wie viel Raum bekommt er? Welche Choreografen wirst du in dein Programm einbeziehen?
F.R.: Ich würde alles, was hier passiert, als Tanz bezeichnen, weil ich mir das schon immer herausgenommen habe, als Tänzer zu definieren, was Tanz ist. Und das Entstehen von Tanz hat für mich mit bestimmten Qualitäten zu tun, vor allem mit Präsenz, Aufmerksamkeit, Anmut, Durchlässigkeit. Das sind für mich die wesentlichen Qualitäten. Sie machen Tanz aus.
Zu den Choreografen, die ich einladen werde, kann ich noch eines sagen: Willkommen sind alle, die Partizipation zulassen. Die darüber hinaus die Identität des Ortes anerkennen. Die keine oder wenige technischen Manipulationen vornehmen, das heißt: sparsames Umgehen mit Presets wie voreingestelltes Licht und Musik vom Band. Ich denke an eine Art „Dogma“ für hier stattfindende Tanzperformances: kein Ballern mit Medien und Technik. Der Körper als Ausdrucksmittel.http://typischich.at/home/wienerin/liebenleben/4610904/SM-fur-Anfaenger?seite=1http://www.tanz-journal.dehttp://www.xplore-berlin.de/shapeimage_2_link_0shapeimage_2_link_1shapeimage_2_link_2
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